Mittwoch, 10. März 2010

Ent-wicklung

Zwei Zeitungsartikel gaben und geben mir seit einiger Zeit zu Denken:

Laut der einen Meldung werden Polizeieinheiten gebildet, die schnell und ohne grossen Schaden anzurichten, bei Schulamokläufen eingreifen können. Man spricht bereits von Kollateralschaden, falls Schüler bei einer solchen Aktion verletzt oder getötet werden.

Der andere Artikel, ohne beängstigende Bilder, hat weniger Aufmerksamkeit erreicht; eine Schulklasse im mittleren Westen, hat eine Selbststudie über das Lernen gemacht.
Vor einer Mathematikprüfung teilte sich die Klasse auf in Gruppenlernen, Einzellernen und eine Gruppe die gemeinsam in den Park ging und vereinzelte Parkgänger. Das Resultat war frappant: ob Allein oder in Gruppen, die nicht gelernt haben und im Park waren haben deutlich besser abgeschnitten.

Betrachten wir den ersten Artikel: Erscheint uns die Schule als Ort, an dem Gefahr droht, die mit öffentlicher Macht einzudämmen ist. Von Lernen steht hier nichts - Verhinderung ist oberstetes Gebot - es geht nicht um Kinder und Jugendliche sondern um potentielle Täter; Vom Lernort zum Tatort. Fachleute bezweifeln, dass Prävention diesbezüglich viel ausrichtet, da die Motive der schrecklichen Taten in der Vergangenheit gezeigt haben, dass es keine einheitlichen Grundmuster gibt. Prohibition wird dennoch gefordert; keine Gewaltfilme mehr, keine Verherrlichung von Gewalt in der Öffentlichkeit, Killergames verboten.

Es scheint als hätten wir als Gemeinschaft und lernende Menschen aus der Geschichte nichts gelernt. Verbote nützen nichts. Wir sind im Zeitalter der Eigenverantwortung angekommen und das zeigt sich im zweiten Artikel, wo Jugendliche selber einen Weg suchen ohne das Lernen zu verweigern aber deutlich nach dem wie fragen.
Obwohl wenige Probanden an diesem Forschungsprojekt beteiligt waren, können die Resultate viel aufzeigen.

Wie kommt es, dass wer sich mit dem Stoff auseinander gesetzt und sicher auch gewissenhaft gelernt hat, jenen unterlegen ist, die sich in die Natur begaben?
Sicher ist, dass alle von der Prüfung wussten und auch vom Stoff der geprüft werden sollte. Also unwissend waren die Naturfreunde nicht. Was die Gruppe im Freien besprochen hat, oder was die Einzelnen beim Spazieren gedacht haben, wissen wir auch nicht, aber das Resultat spricht zu ihren Gunsten.

Rudolf Steiner sagt in seiner Philosophie der Freiheit: Jeder Blick in die Natur erweckt in uns eine Unsumme von Fragen.

Es sind existentielle Fragen; Fragen zu unserem eigenen Blick, zu unserer Wahrnehmung und zu dem Wissen, das wir in diesem Augenblick über das Gesehene zur Verfügung haben.
Jeder Blick in die Natur erweckt in uns ein Zwiegespräch. Was schaue ich jetzt an? Ist es das äussere Erscheinungsbild oder ist da eine höhere Ordnung die wichtiger ist? Sind es gar geheime Prozesse, die die Wissenschaft noch nicht entdeckt hat und die deshalb noch nicht wahr sind?
Jeder stellt etwas anderes in den Vordergrund. Kinder die das erste Mal und über längere Zeit mit dem Wald konfrontiert werden, haben diese Fragen nicht. Sie haben schon Fragen, aber nicht diese. Sie gehen je nach Alter unterschiedlich damit um. Die kleinen schlüpfen Augenblicklich unter die Wurzeln und werden selber zu Zwergen. Angesichts der Riesenbäume wundert es nicht. Hier kommt der Wunsch nach Behütet Sein blitzartig an die Oberfläche. Die Fantasie und das vorhandene Ur-wissen nehmen den Platz beim Spielen ein und die Kinder sind im Jetzt, vergessend und doch lernend in jedem Augenblick. Schon nur die verschiedenen Grün der Moose, die Rinden der Bäume, trockenes oder nasses Laub, Vertrauen und Vorsicht, alles sind Eindrücke die wie ein grosses Nest den Kindern wesentliches von der Welt bieten. Wenn die Neunjährigkeit naht, - sind die Kinder nicht mehr selber die Zwerge sondern betrachten diese Welt des kleinen Volkes nur noch, aber Höhlen und Unterschlüpfe sind immer noch ihre Heimat.
Mit dem zehnten Lebensjahr kommt ein Bruch in das Naturverhältnis. Der Mensch braucht Platz. Jetzt müssen Sägen und Äxte versteckt werden, denn der Rodungstrieb wird wach.
Die Kinder halten die Enge des Waldes kaum mehr aus. Zwar ist Höhle und Abenteuer gefragt, aber jetzt lieber auf offenen Flächen. Das Bild von Gilgamesch, der den Zedernwald im Libanon abholzt, kann als Vergleich gebraucht werden: man legt sich mit den Göttern an.
Geister und Götter werden vertrieben - der Mensch erobert die Welt.
Dieser Lebensabschnitt ist relativ kurz, aber von einer Intensität, die oft tief Luftholen und an der Menschlichkeit allgemein zweifeln lässt. Sie wird unmittelbar und meist ohne Vorankündigung mit vom Trieb zur Ethik abgelöst: jetzt werden die Kinder Hüter des Waldes, der Tiere, der Natur.
Regeln müssen her und hohe Ziele. Das Mittelalter bricht an, Ritterspiele: im Kampf ist Fairness wichtiger als Gewinnen. Den jungen Menschen treibt es in die Höhe, Baumhütten, Plattformen, Barrikaden, Wurfgeschosse und unsichtbar sein sind die Spiele. Gruppenbildungen sind wichtig und vor allem auch Loyalität zu der frei gewählten oder der zugeordneten Gemeinschaft. Verrat wird hart bestraft, durch Ächtung, Ausgrenzung bis hin zum gemeinsamen Quälen. Was vorher noch nicht offensichtlich war zeigt sich nun deutlich; die Welt hat zwei Seiten. Sie ist eingeteilt in Gut und Böse, schwarz und weiss – und es muss gewählt werden. Es sind zwei harte Lebensjahre und hier wird Gefühl für Ethik gebildet. Robin Hood oder ein feiger Sherif, der im Namen von irgendwem Gräueltaten begeht; noch ist sie schwarz-weiss, statt bunt, diese innere Welt.
Innerlich geht es nun weiter in das dreizehnte Lebensjahr. So viele Dinge brechen mit einer Urgewalt auf: Wissensdurst, Drang nach Oben hinaus über die Bäume, Erforschen der Umgebung, Erobern der Welt. Es geschieht erst nur innerlich, äusserlich sind sie schlaksig bis nicht zu gebrauchen für irgendwelche Tätigkeiten die so profan wie Alltagsgestaltung sind. Projekte ersterben in der Fantasie und kommen gar nicht in Gang. Müllhalden bilden sich um die jungen Menschen, ohne das sie fähig wären diese koordiniert zu entsorgen. Die Fähigkeit zum Gedanke ins Tun zu bringen ist eingeschlafen. Aber sie sind geniale Holzhacker in dieser Zeit.
Niemand hackt so viel Holz mit solcher Ausdauer wie die Dreizehnjährigen. Sogar Bachläufe werden Monatelang um geschaufelt auch wenn das nächste Hochwasser wieder alles mit sich reisst. Der Willen zum Spuren hinterlassen ist gross und stark; zum Umsetzen brauchen sie die Hilfe der Erwachsenen, dann gelingt es ihnen kreatives im grossen Mass nach Aussen bringen. Mit dem nächsten Altersabschnitt kommt die Handlungsfähigkeit zurück, zugleich verlieren sie ihre Spielfähigkeit. Was vorher Spielen war wird öde und alles muss Sinn machen. Ebenfalls, so Remo Largo, verlieren die Jugendlichen in dieser Zeit ihre uneingeschränkte Liebesfähigkeit gegenüber den Eltern.
Ein doppelter Verlust; der ersetzt werden muss mit Taten! Taten für die Welt, die Zukunft für eine neue Gemeinschaft die es noch zu gestalten gilt. Erwachsene, ‚Alte‘ haben in dieser Welt nichts mehr zu suchen. Die Eroberung der Welt wird auf die Gesamte Erwachsenenwelt ausgelegt. Diese Hüter des Wissens, werden von den Jungen Menschen genausten geprüft ob das Wissen ‚echt‘ ist oder ob sie jemandem gehorchen, der das Wissen diktiert.

Wissen ist Flucht vor dem Denken (Georg Kühlewind, Logostruktur) deshalb muss es Wissen sein, das durchdacht ist sonst erreicht es diese hungrigen Halberwachsenen nicht; mit durchkauen werden sie nicht satt. Sie brauchen Autonome Lehrer, die ihr eigener Chef sind, unabhängige fähige Menschen.

Goethe spricht in seiner Metamorphose der Pflanzen von der Urpflanze; aus der heraus, sich die Variationen durch Anpassung ergeben aber im Kern und ihrem Zyklus ist sie Urpflanze geblieben.
So scheint es auch einen Urmenschen, ein Fundament, in uns zu geben, das zwar im höchsten Masse strapaziert werden kann, aber doch vorhanden ist. Sozialisation, Kultur- oder Religionszugehörigkeit sind wie klimatische Bedingungen; durch die Begegnung mit unserem Urmenschen in der Natur kann innerhalb dieser Bedingungen eine individuelle Persönlichkeit entstehen, die wiederum als freier Mensch über den Fortgang seiner Entwicklung selber entscheidet.

Die Tatsache, dass Spezialeinheiten der Polizei die Sicherheit an Schulen gewährleisten sollen zeigt, dass unser Schulsystem den Anforderungen nicht mehr gerecht wird. Wenn Kinder und Jugendliche nur noch unter Hochsicherheitsmassnahmen am Unterricht teilnehmen können hat es ausgedient sich in eine falsche Richtung entwickelt und gehört geschlossen.
Neue Schulen braucht das Land, lebendige Schulen, Schulen für Menschen nicht für ein System.

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